White Paper: Über die verschenkten Potenziale einer Wesentlichkeitsanalyse

Veränderte Rahmenbedingungen haben die Diskussion um den Wesentlichkeitsbegriff neu entfacht. Dabei rückt vor allem die Bewertung des eigenen Impacts in den Fokus der Unternehmen. Auslöser dieses Hypes sind zum einen die Ausführungen der Global Reporting Initiative zur Wesentlichkeitsanalyse, zum anderen die Vorgaben der CSR-Berichtspflicht. Letztere fordert von Unternehmen, die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit zu bewerten.

Insbesondere berichtspflichtige Unternehmen stehen nun vor der Herausforderung, den gestiegenen Anforderungen vollumfänglich zu entsprechen. Für das Nachhaltigkeitsmanagement stellt sich die Frage, wie die Fokussierung auf wesentliche Themen – und damit auch die Auslassung nachrangiger Themen – nachvollziehbar begründet werden kann.

In drei aufeinander folgenden Blogbeiträgen werden wir zentrale Inhalte des aktuellen Scholz & Friends Reputation White Paper „Impact-Bewertungen und Materialität – neue Anforderungen und Ansätze für Wesentlichkeitsanalysen“ vorstellen. Der zweite Beitrag befasst sich mit den verschenkten Potenzialen der Wesentlichkeitsanalyse in der gängigen Reporting-Praxis.

Über die verschenkten Potenziale einer Wesentlichkeitsanalyse

Scholz & Friends Reputation Beitragsreihe „Impact-Bewertungen und Materialität“ (2/3)

Gerade Reporting-erfahrene Unternehmen stecken inzwischen viel Energie in die Erstellung einer umfangreichen Wesentlichkeitsmatrix. In teils hoher Detailtiefe werden relevante Themen identifiziert und es wird versucht, Wesentliches von weniger oder nicht Wesentlichem abzugrenzen. Die Matrix steht jedoch häufig isoliert auf einer der vorderen Berichtsseiten. Nachhaltigkeitsstrategie und Berichtsinhalte verbleiben in einer großen Themenbreite und nutzen nicht die Chance, Schwerpunkte zu setzen und ein klares Nachhaltigkeitsprofil anzubieten.

Die Wesentlichkeitsanalyse dient damit nur dem Selbstzweck: Das Unternehmen erfüllt Vorgaben. Es verschenkt aber das Potenzial, das in diesem Werkzeug liegt. Die beiden wichtigsten Gründe für dieses Phänomen sind zum einen die Abstraktheit dieses Fachbegriffs, das zu Unverständnis führt und einen großen Interpretationsspielraum eröffnet, zum anderen die Unklarheit über den Analyseprozess. Je nach Absender wird der Begriff der Wesentlichkeit unterschiedlich gedeutet, auch die Methodik zur Identifizierung der wesentlichen Themen variiert je nach Unternehmen. Auf diese Problematik haben Jones et al. bereits 2015 hingewiesen. Sie stellten fest, dass unterschiedliche Wesentlichkeitsdefinitionen, unterschiedliche Betrachtungsrahmen und Berichtsgrenzen sowie verschiedene prozessuale Herangehensweisen gewählt werden.[1]

Folglich variieren die Achsenbezeichnungen der Wesentlichkeitsmatrizen je nach Unternehmen. Und ein weiteres zentrales Ergebnis der Analyse von Jones et al. ist bemerkenswert, denn viele der als besonders wesentlich identifizierten Themen geben eine eingeschränkte Unternehmensperspektive wieder: Betrachtet werden die Auswirkungen von Umwelt- oder sozialen Entwicklungen auf das Unternehmen – es wird also ein Outside-in-Ansatz gewählt. Die von GRI geforderte Bewertung der Auswirkungen, die das Unternehmen auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft hat, wird bislang selten vorgenommen.

Überblick: Wesentlichkeitsmatrizen in Nachhaltigkeitsberichten

Ein Blick in aktuelle Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen bestätigt diese in Studien attestierten Ungenauigkeiten. Obwohl die folgenden Beispiele aus Nachhaltigkeitsberichten stammen, die nach eigener Aussage in Übereinstimmung mit den GRI-Leitlinien erstellt wurden, enthalten die Wesentlichkeitsanalysen Definitionen und Vorgehensweisen, die mit GRI nur bedingt übereinstimmen. Die Reihe der hier vorgestellten Beispiele ließe sich fast beliebig erweitern, stellen diese doch die gängige Praxis bei Wesentlichkeitsanalysen dar.

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Abb. 1: Wesentlichkeitsmatrix der BMW Group

Im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht der BMW Group findet sich eine Wesentlichkeitsmatrix (Abb. 1), die eine typische Fehlinterpretation der beiden Wesentlichkeitsdimensionen verdeutlicht. Auf der y-Achse wird die Relevanz eines Nachhaltigkeitsthemas für Stakeholder aufgezeigt. Auf der x-Achse findet sich die Bezeichnung „Relevanz für die BMW Group“, die sicher nicht deutungsgleich mit den geforderten Auswirkungen ist. Nach gleicher Logik stuft das Unternehmen Gegenbauer die Wesentlichkeit von Nachhaltigkeitsthemen ein (siehe Abb. 2: „Relevanz für Gegenbauer“ versus „Relevanz für Gegenbauers Anspruchsgruppen“), jedoch mit vertauschten Achsen.

Abb. 2: Wesentlichkeitsmatrix von Gegenbauer

Unilever (Abb. 3) ist begrifflich dichter an der GRI-Vorgabe: Zwar wird bei der x-Achse der Begriff der Auswirkungen genutzt, allerdings ist von den Auswirkungen auf Unilever die Rede („Impact on the business“), nicht etwa vom „Impact of the business“. Viele Unternehmen betrachten neben der Stakeholder-Dimension die Auswirkungen auf das eigene Unternehmen. Diese Denkweise entspricht eher einer Bewertung der Geschäftsrelevanz eines Themas und der Sicht des Risikomanagements. Sie ist damit durch die Geschäftsberichterstattung „gelernt“. Bei Nachhaltigkeit wird von Unternehmen jedoch ein anderer, umfassenderer Ansatz erwartet.

Abb. 3: Wesentlichkeitsmatrix von Unilever.[4]

Die eigentliche Intention des Wesentlichkeitsgrundsatzes, wie beispielsweise von GRI definiert, wird durch die gängige Praxis nicht wiedergegeben. McElroy pointiert, was diese landläufige Anwendung des Wesentlichkeitsprinzips ist: „a perversion of the idea of materiality in sustainability reporting because it cuts out what are arguably the most material issues“.[5] Die Frage drängt sich auf, ob es sich bei den Analysen dann nicht um eine fruchtlose Übung handelt und Wesentlichkeitsmatrizen in ihrer jetzigen Form nutzlos sind, wie in dem Blogartikel „Why the materiality matrix is useless“[6] behauptet wird.

Relevanz für Stakeholder: same, same, but different!

Auch die übliche Bezeichnung der zweiten Achse mit „Relevanz für Stakeholder“ entspricht bei genauer Betrachtung nicht ganz den Vorgaben und kann ein Indiz für eine ungenaue Erhebungsmethode sein. Laut GRI geht es nicht darum, Themen zu identifizieren, die ein Stakeholder grundsätzlich für relevant hält. Es soll eingeschätzt werden, wie stark ein bestimmtes Thema die Stakeholder in ihrer Bewertung des Unternehmens und in ihren Entscheidungen bezogen auf das Unternehmen beeinflusst.

Ein Beispiel: Wird eine Tierschutzorganisation nach ihrer Beurteilung der Relevanz des Themas „Tierwohl“ gefragt, wird diese grundsätzlich eher als hoch eingeschätzt werden, und zwar unabhängig davon, welches Unternehmen die Frage gestellt hat. Lautet die Frage hingegen, inwieweit das Thema eine Rolle für die Bewertung des fragenden Unternehmens spielt, dürften die Antworten deutlich differenzierter ausfallen, denn nun werden Art des Geschäftsmodells, Einflussmöglichkeiten, Geschäftsstandorte etc. in die Einschätzung miteinbezogen. Eine präzise Fragestellung macht den Unterschied!

[1]   Vgl. Jones/Comfort/Hillier, 2015.

[2]   BMW Group, 2017, S. 12.

[3]   Unternehmensgruppe Gegenbauer, 2017, o. S.

[4]   Unilever, 2017, o. S.

[5]   McElroy, 2011, o. S.

[6]   Vgl. o. V., 2014.

Falls Sie mehr über dieses Thema erfahren möchten, können Sie unser White Paper „Impact-Bewertungen und Materialität – neue Anforderungen und Ansätze für Wesentlichkeitsanalysen“ kostenlos herunterladen.

Quellen:

BMW Group. (2017) Sustainable Value Report 2016. Abgerufen von https://www.bmwgroup.com/content/dam/bmw-group-websites/bmwgroup_com/ir/downloads/de/2016/BMW-Group-Nachhaltigkeitsbericht-2016–DE.pdf

Jones, P./Comfort, D./Hillier D. (2015) Managing materiality: a preliminary examination of the adoption of the new GRI G4 guidelines on materiality within the business community. Journal of Public Affairs 2016, 16(3), 222–230.

McElroy, Mar W. (2011) Are materiality matrices really material? Abgerufen von http://www.sustainablebrands.com/news_and_views/
articles/are-materiality-matrices-really-material, 06.05.2017.

O.V. (2014) Why the Materiality Matrix is useless. Online unter: http://csr-reporting.blogspot.de /2014/12/why-materiality-matrix-is-useless.html, 07.05.2017.

Unilever. (2017) Defining our material issues. Abgerufen von https://www.unilever.com/sustainable-living/our-approach-to-reporting
/defining-our-material-issues/, 19.07.2017.

Unternehmensgruppe Gegenbauer. (2017) Wesentlichkeit im Fokus. Abgerufen von http://www.nachhaltigkeit-gegenbauer.de/allgemeine-angaben/wesentlichkeit-im-fokus/, 19.07.2017.

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